Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Worte vom Kreuz
Predigtreihe für die Passionszeit 2000
5. Sonntag der Passionszeit, Judika

9.4.2000
Markus 15,34

Reinhard Weber

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen!

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Dieser Satz ist kein Satz, dieser Satz ist ein Schrei. Hinter ihn gehört so gut wie ein Frage- auch ein Ausrufezeichen.

Diese paar Worte beenden das irdische Lebensgeschick Jesu. Das ist ein Ende, wie es sich seine Anhänger nicht hatten träumen lassen. Die hatten vielmehr von etwas anderem geträumt, wovon bekanntlich die meisten träumen, vom Reich und von der Herrschaft, vom Sieg und den goldenen Gassen, vom triumphalen Gericht über die Feinde und den weichen Sesseln der Gewinner, usw. usw. Man kennt das, dieses Gemenge von Bimbes, Macht, Ansehen, sozialer Stellung, Einfluß und Wohlsituiertheit. Warum sollten die Jünger anders und besser sein?!

Aber nun ist es im Gegenteil geendet. Ihre Blütenträume haben ein jähes Ende gefunden. Aus, vorbei: „wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen würde (Lk 24,21).“ Es war wohl nichts, so werden sie empfunden haben. Enttäuschung allenthalben.

Und doch, das wäre alles noch nicht so schlimm, nicht wirklich tragisch, denn man kann ja auch ohne all das leben, ohne diesen ganzen illusionistischen Bimbeskrimskrams, diese egomanischen Obsessionen, und vielleicht nicht einmal schlecht. Auch wenn die Enttäuschung natürlich groß ist und am Herzen nagt, und nicht nur an diesem. Dieses plötzliche Zerstäuben aller Traumvisionen, das ist schon hart und kann auch tiefe Bitterkeit, ja Zynismus hervorrufen. Man kennt auch das.

Und dennoch: das alles wäre zur Not noch zu verkraften, wenn es nicht in diesem Schrei um etwas ganz anderes ginge, wenn dahinter nicht noch ein anderer Horizont aufschiene, in dem er gesehen, gehört und verstanden werden muß. In diesem Schandtod am Kreuz der Römer schwingt ja noch etwas anderes als dieser ganze übliche menschliche Frust mit. Dahinter steht noch eine andere Frage, dahinter leuchtet, nein dahinter verlöscht noch ein anderer Stern: die Frage des einzigartigsten Gottesverkünders, Gottesereigners, den die Menschengeschichte gekannt hat, die Frage des gottnächsten Gottesliebhabers nach seinem, die Frage der gottinnigsten Menschenseele nach ihrem Gott. Der den Absoluten verkündigte, darstellte, zur Sprache brachte, als gegenwärtige Wirklichkeit realisierte, daß er zum Greifen nahe kam, der sich ihm ganz auslieferte und nichts für sich sein wollte, was er nicht zugleich für ihn sein konnte, der wird in dieser Entscheidungsstunde vom Stern und Kern, von der innersten Herzmitte seines Daseins verlassen und ausgeliefert den Mächten der gottfeindlichen Welt, dem Gegengott, den gottfeindlichen Mächten und ihren weltlichen Agenten. Das ist sein irdisches Geschick und die Konsequenz aus seinem Auftreten. Ein schmachvoller Tod am Galgen der heidnischen Besatzer als Räuber und Aufrührer, als Verräter und Verführer. So endet der gottinnige, der gottliebende und gottgeliebte Mensch. Wer wollte da vom „lieben Gott“ reden!? Wer wollte da leugnen, daß es hier ums Ganze geht, um die meta-physische Einheit, Identität und Integrität eines Menschendaseins, einer gottgeöffneten Seele, um ihr Glaubenkönnen und ihre Glaub-würdigkeit. Die verzweiflunsgvolle Einsamkeit dieses gottverlassenen Gottinnigen läßt sich nur schwer ausloten, so abgrundtief ist ihr Elend, das sich durch keinen exegetischen Kunstgriff besänftigen, harmonisieren und reduktiv verharmlosen läßt. Auch dagegen schreit dieser Schrei an.

Soviel also ist von diesem Schlußwort Jesu am Karfreitag deutlich und läßt sich aus ihm nicht herausbringen: es ist keine nur angenehme, wohltuende, „liebe“, keine handzahme Geschichte, die sich hier abspielt und die hier ein vorläufiges Ende findet. Es sind auch nicht nur der ganze Schutt und Schmutz, das Versagen und die Blindheit, der Geifer und die Gier des Menschengeschlechtes und seiner Geschichte darin, nein, es ist auch eine göttliche Geschichte, die Geschichte Gottes mit sich selbst nämlich, des biblischen Gottes, die sich hier ereignet. Das darf nicht übersehen und nicht verharmlost werden.

Denn gewiß ist ja dies, daß in diesem jungen Galiläer die Geschichte des atl. Glaubens sich kondensiert hat und die Bibel gleichsam explodiert ist. Gott ist für ihn der nahe Gott, der nahegekommene. Er erlebt ihn handgreiflich und unmittelbar. Das Königreich der Himmel ist ihm Gegenwart, und Gott lädt die Mühseligen und Beladenen zu seiner Krönungsfeier ein, zu seiner Hochzeit mit den Menschen. Da findet sich keine christologische Dogmatik, kein Jenseitsglaube, keine apokalyptische Eschatologie, keine Hinwendung zu einem unvorstellbaren Drüben, sondern nur ein Hier und Jetzt, die Freude der Heilszeit als Gegenwart des Bräutigams (Mk 2,18ff). Keine Kirche ist da anvisiert, sondern eine Gottesbotschaft als präsente Realität. Abba, das ist die Botschaft. Und die Bitte an Gott, nun sein Reich doch in ganzer Fülle aufzurichten. Auf Erden. Damit hat Jesus Anhänger und auch Gegner gefunden.

In Jesus ist die Gotteserfahrung die einfachste Sache der Welt, das Bewußtsein des Letzten im Vorletzten. Ozeanisches Gefühl, für einen Augenblick: Für die meisten Menschen bleibt es dabei, ein Vorübergehen. Manche aber machen dauerhaft ernst damit. Dann kollabieren sie, indem in ihnen die Welt kollabiert.

Denn Jesus lebt ja auf dem Hintergrund der „Schrift“. Das ist die atl. Verheißungsgeschichte, in der er drinsteht, die er sich aufgerufen fühlt zu erfüllen. „Heute ist dies Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren“ (Lk 4,21).

Ob er wohl irgendwann ungeduldig geworden ist, als es ihm zu lange dauerte und sich hinzog, wie einst Albert Schweitzer meinte? Ob seine schöpferische Phantasie mit ihm durchgegangen ist und er mit ihr die Wirklichkeit übersprang? War es die Ungeduld des religiösen Genies, die von ihm Besitz ergriff und ihn mit sich fortriß? Innere Glut und Begeisterung haben ihn geleitet, das ist wohl sicher. Aber war er auch deshalb schon ein Schwärmer, ein Enthusiast, gar ein Fanatiker? Oder ist die Spannung deshalb in ihm und seinen Jüngern hochgestiegen, weil er im Volk Erwartungen geweckt hatte, die es nun auch realisiert sehen wollte? Fühlte er sich unter Druck gesetzt?

Sein Wort hatte Wirkung, auf die Seelen der Menschen, zweifellos; er heilte auch Kranke, aber immerhin, deshalb wichen die Römer ja noch keinen Zentimeter aus dem Land, der Tempel verrückte sich nicht. Erhoffte man das von ihm? Geriet deshalb seine Autorität und Glaubwürdigkeit zunehmend unter Pressionen? Sollte er sich beweisen, größere Zeichen tun, die Macht an sich reißen, wirklich alle Dinge wenden? Wollte man von ihm die umfassende Befreiung, die große Tat, die Weltwende? Hat er sich davon anstecken lassen? Oder wurde sein Wirken mißverstanden, hat man ihn in etwas hineingedrängt, was er eigentlich ablehnte, hat man sein Auftreten falsch interpretiert und ihn schließlich in einem Justizirrtum zur Strecke gebracht?

Wir wissen es nicht sicher. Aber eins ist deutlich: die Krisis steigt. Er geht aufs Ganze, auf nach Jerusalem? Was wollte er dort? Wollte er die Führer des Volkes vor die Entscheidung stellen, sollten sie sich zu seinem Gott bekennen? Glaubte er dort die Gottesherrschaft zu vollenden? Wollte er gar Gott zwingen, etwas zu tun, einzugreifen ins weltliche Geschehen, auch äußerlich, seine Herrschaft weltweit und letztgültig zur Durchsetzung zu bringen, sich zu ihm und seiner Botschaft, seinem Wirken, seiner Gottesereignung zu bekennen, zu ihm als Menschen- und Gottessohn? Hat er etwa gar dabei mit seinem gewaltsamen Tod gerechnet, ihn etwa bewußt einkalkuliert und ihm möglicherweise einen bestimmten Sinn gegeben, ihn als Mittel angesehen, zur Sühne für die Sünden der Menschen, als Grundlage eines neuen Bundes, oder als Instrument in der letzten Bedrängnis, um das Tor zum endzeitlichen Gottesreich mit einem Schlage aufzustoßen? Wollte er Gott dazu veranlassen, sich seines Boten anzunehmen gegen die Menschen, wollte er ihn angesichts der tödlichen Bedrohung seines Sohnes zum Eingreifen in die böse Welt herausfordern, bot er sich ihm als Opfer an, das für den umfassenden Beginn der Heilszeit noch nötig war? Hat er sein gewaltsames Ende selbst arrangiert, es absichtlich herbeigeführt, oder wurde er von ihm überrascht, ließ er es nur passiv geschehen, als gehorsames Erleiden? Oder spürte er lediglich den zunehmenden Widerstand, die Gefahr für seine Botschaft und seine Lebensaufgabe, so daß er sich selber opfern wollte, um Gott durch dieses Fanal bei den Menschen zum Durchbruch zu verhelfen, indem er diese dadurch zu einer letzten Umkehr rief oder sich für sie in die Bresche warf? Sah er in seinem Tod das Reich kommen? Erwartete er noch im letzten Moment am Kreuz das Eingreifen seines Gottes? Ist er zusammengebrochen, als dieses nicht eintrat? Fragen von ungeheurer Bedeutung, und dennoch: wir wissen auch das nicht wirklich.

Nur eines scheint durch die Überlieferung klar hindurch: Jesus will im Unterschied zu anderen Propheten und Zauberern und Messiasprätendenten der Zeit nichts für sich, nur alles für das Reich des Allumfassenden, er lebt ganz aus und für Gott, er ist sich selbst kein Gegenstand des Interesses. Er will dienen, nicht herrschen. Er will allein Gott zur Herrschaft bringen. Ihm ordnet er alles andere unter. Er ist nichts anderes als der Bote und Bringer des Reichs.

Und genau dieser Mann endet am Holz! Und er endet in der Verlassenheit von eben demjenigen Gott, dem er sein Leben geweiht und zum Opfer gebracht hat, außer dem er lebend nichts wissen wollte.

Das ist die eigentliche Dimension dieses Sterbens, dieses Kreuzes und dieses Todesschreies. Daneben verglimmt alles andere an menschlicher Enttäuschung zu nichts. Erst hier wird die Theologie theologisch! Hier wird die menschliche Geschichte zu einer göttlichen! Hier geht es nicht nur um die Menschlichkeit des Menschen, hier geht es mindestens ebensosehr um die Gottheit Gottes. Beide stehen miteinander auf dem Spiel, und sie konzentrieren sich in diesen wenigen letzten Worten Jesu, in diesem Todesschrei!

Hat sich Jesus mit seiner Gotteserwartung, mit seiner Reichshoffnung getäuscht? War alles ein grandioser Irrtum, die kindliche Illusion eines -wie Nietzsche sagt- „heiligen Idioten“? Wird hier offenbar, daß es mit dem Gott Jesu, dem Gott der Liebe nichts ist, daß er gegen den Gott dieser Welt, der Macht und des Gesetzes keine Chance hat?! Ist damit sein Wirken als ganzes widerlegt und fällt auf den Müllhaufen der Geschichte, wo schon viele edle Leichen liegen? Zeigt sein verzweiflungsvoller Schrei nicht eben dies an, daß er dies nun auch einsieht, daß er gescheitert ist, daß seine Mission keinen Erfolg gezeitigt hat, sondern in einem namenlosen Desaster geendet ist?!

Die, die dem anderen Gott dienen, dem Gott der Macht und der Ordnung, der Sanktionierung der bestehenden Verhältnisse, die scheinen offensichtlich gesiegt und ihn im Namen ihres Gottes zu einem von seinem Gott Verlassenen gemacht zu haben. Ihr Sieg ist seine Niederlage. Davon läßt sich zunächst einmal gar nichts abmarkten. So ist es erfahren worden, auch von denen, die ihm gefolgt waren und auf ihn gesetzt hatten. Zusammenbruch! Das ist die Devise der Stunde!

Der da schreit nach seinem Gott in seiner Ohnmacht, das ist der ehedem Gottnächste. Er schreit seine Verzweifling heraus, daß der ihn verläßt, den er nie verlassen hat, dem er sein Leben zu eigen gegeben hat, er ruft nach dem Bekenntnis seines Gottes zu ihm, seinem Diener und Sohn. Natürlich, wir wissen es: später bemächtigen sich seiner dann die christlichen Theologen mit ihren dogmatischen Spekulationen und Argumentationsgebäuden und die Dichter mit ihrer mythischen Einbildungskraft. Alles wird nun in ihn hinein versammelt, außer seiner Verzweiflung über die Ohnmacht der Liebe.

Aber damit verliert auch das Tragische an der Geschichte Jesu seine Brisanz wie die tragische Struktur der Geschichte selber. Die Furchtbarkeit des Kreuzes! Sein letzter Kreuzesschrei wird nicht mehr ernstgenommen. Aber über eins muß man sich dabei klar sein:

Mit der Verharmlosung des Kreuzes beginnen alle Übel im Christentum und alle Schandtaten aus seiner Mitte“ (Friedrich Heer).

Denn mit diesem Kreuz lassen sich eigentlich keine Waffen segnen, es ist kein Siegeszeichen, es ist das Symbol einer großen Niederlage, einer Tragödie. Dieses Schandmal ist das Zeichen einer großen Katastrophe. Es läßt sich nicht umfunktionieren, ohne es zu pervertieren.

Denn in ihm ist die Nachtseite Gottes, sein ungründiger Grund so sehr offenbar wie der dunkle Schatten der Menschengeschichte, die scheinbar dämonische Seite des Theos und des Anthropos, wie sie im Licht der Geschichte erscheinen, das unausdenkbare und unaushaltbare Grauen. Ein furchtbares Wissen um das Zwielicht, welches die Gottheit umspielt, und um die Abgründe des Menschen, die sich dem zweiten Blick eröffnen. Das Kreuz ist ein Fanal, es reißt die Existenz zwischen Gott und Gott auf, indem es Gott gegen Gott stellt, den Gott der Liebe gegen den Gott des Gesetzes, die in ihrem Gegeneinander dennoch nicht voneinander lassen können. Das ist die Tiefe dieses Kreuzes, welches über der Menschheitsgeschichte aufgerichtet ist. Gott selber scheint für uns im Geschick dieses Menschen auseinanderzutreten, mit sich in Konflikt zu geraten und unsere eigene menschliche Existenz zwischen Gott und Gott zu situieren.

Ob man sich in dieser Lage mit dem sicher nicht ganz absurden Gedanken trösten kann, daß das Leben und Wirken Jesu wenigstens ein schöpferischer Irrtum gewesen sei! Wie so oft in der Geschichte geschehen?!

Er hat sich getäuscht, die Geschichte ist weiter und über ihn und seine Hoffnungen hinweggegangen. Das Reich ist in seinem Sinne nicht gekommen. Er selber aber wurde in ganz anderer Weise nicht vergessen, nicht nur durch die Existenz der Kirche. Ein produktives Mißverständnis also, wenn man schon nicht auf den Auferstehungsgedanken zurückgreifen will?

„Jesus stirbt am Kreuz. Er stirbt für seinen Irrtum. Er stirbt für seinen Irrtum in die Weltgeschichte hinein“ (F. Heer). Diese steht nach ihm in einem anderen Licht. Seine Tragödie, sein Scheitern verändert die Welt, nicht sein Sieg. Er geht seinen Weg des Opfers. Aber es wird anders wirksam als gedacht. Er stirbt grausam und allein, von Gott verlassen. Ein furchtbarer, ein tragischer Irrtum. Aber dieser Irrtum wird dennoch fruchtbar, er eröffnet einen neuen Blick auf die Humanität, auf das Geschick des Menschen in der Welt, Jesus wird zum Eröffner des Raumes der Seele (L. Ziegler).

Und in der Tat: das AT schon ist ja im Grunde eine einzige Scheiternsgeschichte, von Adam und Eva über Kain und Abel, Mose und Saul bis hin zu Josia und den Makkabäern, und darin ist Jesus ein weiteres, in bestimmtem Sinne ein letztes Glied. Dieser biblische Gott scheint mit den Seinen stets den „unteren Weg“ zu gehen. Er führt sie in die Anfechtung durch die Welt und an sich selbst als gerechtem Gott. Jesus hat die Welt verändert schon allein durch sein bloßes Dasein in der Geschichte, durch sein Wirken und durch sein Schicksal, gewiß, aber diese Veränderung kann doch nur ein Vorschein dessen sein, was von ihm angezielt war. Das ist in der Geschichte weiterhin verborgen, nur in verhüllter Gestalt da, eben als die Ohnmacht der Liebe, lediglich als dieses Wissen der Liebe um sich selbst. Der schöpferische Irrtum wartet immer noch darauf, als solcher aufgelöst zu werden.

Der Schrei Jesu aus der Gottverlassenheit des Kreuzes heraus nach dem verlassenden Gott ist der Schrei, der seither durch die Geschichte gellt und die Zukunft offen hält, denn er ist in geschichtlich-vollendlicher Eindeutigkeit noch nicht beantwortet. Es ist noch unklar, was aus ihm werden wird. In der weiterlaufenden Geschichte, die wir sind, ist er weder endgültig verifiziert noch falsifiziert, sondern dem Glauben überantwortet. In ihm steckt der zukünftige Gott, der sich als solcher noch erweisen muß, der noch wird, der weder mit dem Menschen noch mit sich schon zuende ist. Dieser Schrei öffnet die Geschichte, die Menschengeschichte im Blick auf die Geschichte Gottes mit ihr, denn dieser Schrei, dieses Kreuz, sie ereignen die Gestalt der Solidarität der Liebe in der Ohnmacht. In dem Festhalten des Verlassenen am Verlassenden bilden sie den Sieg der Liebe ab, insofern sie nichts ist und sein will als Liebe. Der letzte Schrei Jesu zeigt die prophetische Dimension der Geschichte an, indem er die Frage stellt, ob diese Welt endgültig von Gott verlassen ist. Dieser Schrei ist der Kulminationspunkt der Geschichte des Menschen mit Gott und Gottes mit dem Menschen, der Entscheidungspunkt, die Angel, um die sich die Weltgeschichte dreht (Hegel). Und was aus ihm werden wird, steht noch dahin. An uns ist es nur, die Frage offenzuhalten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und diese Frage hat die Form des angefochtenen Glaubens. Denn der Gott Jesu, der sich im irdischen Geschick seines Mandatars an die Welt entäußert hat und selbst unter das Schicksal der Welt als Welt, und d.h. in die Gottverlassenheit ohnmächtiger Liebe getreten ist, der verweist in seinem Handeln und Erleiden auf eben nichts anderes als sich selbst, will heißen auf die endliche Durchsetzung seiner Gottheit, die in der Gegenwart nicht anders offenbar ist denn als im Glauben verhüllte. Darum hat sein Handeln im Verlassen der gottinnigen Seele Verheißungscharakter. Denn seine Selbstentäußerung im Geschick Jesu von Nazareth als Verlassen des Sohnes hat ja die Form der Selbstverlassenheit. Darum weist sein Wirken in Jesus und eben auch noch in dessen Kreuz in der Weise der Verborgenheit, welche aus der Tatsache resultiert, daß er die Dunkelheit des Menschen zur Voraussetzung seines eigenen Handelns gemacht hat, auf ihn selbst zurück, so wie er entäußerungslos in unverstellter Klarheit auf die Welt wartet, indem er in der Verhülltheit seiner selbst die Schuld des Menschen „löst“, um derart wieder ganz er selbst sein zu können.

Der im Bewußtsein absoluter Gottverlassenheit ausgestoßene Todesschrei Jesu am Kreuz nach dem verlassenden Gott ist also nichts anderes als der Verweis auf das rückhaltlose Eingehen Gottes vermittels der Ohnmacht der Liebe in die welthafte Bedingtheit um der Welt willen, damit die Welt ebenso rückhaltlos eingehen kann in die unbedingte Klarheit Gottes um Gottes willen. Gerade so aber verweist dieser Schrei uns zurück in das weltlich verhüllte Handeln Gottes und in die Form des Glaubens als Gestalt der Verheißungsgeschichte, nämlich daß Gott einst seinen seit der Schöpfung geltenden Vorbehalt, ihn selber in seiner ganzen unverstellten Gottheit zu schauen, revozieren wird.

Priv.-Doz. Pfr. Dr. Reinhard Weber
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