Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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5. Sonntag nach Epiphanias
6.2.2000
Matthäus 13,24-30

Dietz Lange

"Das Unkraut mitwachsen lassen?", St.Nikolai Göttingen

Liebe Gemeinde!

Ein sonderbarer Landwirt ist das, der das Unkraut einfach mitwachsen lässt. Das tat man nicht in Palästina damals. Die Reihen eines Weizenfeldes standen weit genug auseinander, dass man bequem dazwischen gehen und jäten konnte. Das musste man auch. Weiß der Bauer in dem Gleichnis denn nicht, dass das Unkraut dem Weizen die Kraft nehmen und ihn überwuchern kann? Bis zur Ernte warten, ja wenn es dann überhaupt noch eine Ernte gibt, die der Rede wert ist!

Wir müssen uns das Unkraut, von dem Jesus spricht, etwas näher ansehen, um zu verstehen. Taumellolch heißt es, sagen die gelehrten Kommentare. Das ist eine Grasart, mit dem Weizen verwandt, die ihm anfangs recht ähnlich sieht. Da kann es leicht zu Verwechslungen kommen, so dass man jungen Weizen statt Unkraut ausreißt. Trotzdem jätete man, besonders auch deshalb, weil der Lolch giftig ist. Verhexten Weizen nannte man ihn, ein Teufelszeug, das sogar Menschen blind machen konnte, wenn es ins Brot geraten war.

Was hilft es uns, das zu wissen? Ist es daraufhin nicht erst recht klar, dass man solche Pflanzen frühzeitig und gründlich beseitigen muss? Wer ein Gleichnis erzählt, das so offensichtlich gegen selbstverständliche Regeln des täglichen Lebens verstößt, der will provozieren. Das wird deutlich, wenn man das Bild vom Acker übersetzt. Natürlich will die Urgemeinde, die Jesus dieses Gleichnis in den Mund gelegt hat, uns keine Nachhilfestunde in Landwirtschaft erteilen. Der Acker steht für die Kirche. Weizen und Unkraut sind einerseits die Christen, die sich an Jesu Worte halten, und andererseits die Scheinchristen, die nur so tun als ob, in Wirklichkeit aber das Gift des Unglaubens verbreiten, von dem man blind wird.

Jetzt kann man die Knechte, das sind die Jünger oder überhaupt die Anhänger Jesu, gut verstehen, wenn sie darauf drängen, das "Unkraut" auszureißen. Natürlich will man in der Kirche eine klare Orientierung haben. Da kann man Leute nicht gebrauchen, die eine christliche Fassade haben, aber Hass und Zwietracht in der Gemeinde säen. Ebenso verständlich ist es, dass man versucht, sein öffentliches Image sauber zu halten. Wenn eine politische Partei Mitglieder hat, die durch ihr Verhalten das Ansehen dieser Partei ruinieren, wird sie sie ausschließen. Jedenfalls würde man das normalerweise erwarten. Warum soll das in der Kirche anders sein?

Stattdessen wird uns hier gesagt, dass vorbildliche Christen und Brunnenvergifter nebeneinander existieren sollen. Keine Verurteilung, und sei sie noch so verdient, kein Ausschluss, nichts. Was soll das? Es hilft auch nichts, wenn man feststellt, dass dieses Gleichnis nicht von Jesus selbst stammt. Denn wer es zuerst erzählt hat, der hat jedenfalls von Jesus gelernt, der gesagt hat, dass Gott seine Sonne scheinen lässt über Gerechte und Ungerechte. Ist es dann aber vielleicht nur ein Gleichnis für die Anfangszeit der Kirche, das den Übereifer der damaligen Christen ein wenig dämpfen sollte? Für heute jedenfalls scheint es denkbar ungeeignet zu sein. Leidet unsere Kirche heute nicht gerade darunter, dass sie weithin gar kein Profil mehr hat? Von urtümlicher Orthodoxie bis zum Ökochristentum, von traditionalistischer Unbeweglichkeit bis zur political correctness, die sich jeder Mode vom Sozialismus über den Feminismus bis zum Ökumenismus bedingungslos unterwirft, gibt es schlechterdings alles in der Kirche. Kann denn das gut sein? Ganz zu schweigen von den vielen Kirchenmitgliedern, die sich in ihrem Alltag ganz unsozial aufführen und von denen viele ohnehin gar nichts mehr glauben. Müsste da nicht doch einmal gründlich ausgekehrt werden, damit die Kirche wieder glaubwürdig werden kann?

Es sind bestimmt nicht nur religiöse Fanatiker, die so fragen. Jeder, der es mit seinem Glauben ernst meint, hat wohl schon solche Fragen gestellt. Nun hat weder Jesus noch die Urgemeinde sagen wollen, dass in der Kirche alles wie Kraut und Rüben durcheinander gehen solle. Es ist von einem Feld die Rede, auf dem Weizen und Unkraut wachsen, und beides ist nicht dasselbe. Freilich: Wer ist denn in der Lage, in jedem einzelnen Fall genau zu sagen, was zum Weizen und was zum Lolch gehört? Wer gibt uns das Recht, von einem anderen Menschen zu sagen, er meine es mit seinem Glauben und mit seiner Verantwortung vor Gott und dem Menschen nicht ernst? Man hat fast den Eindruck, als hätte die frühe Gemeinde und auch Jesus selbst schon die Inquisition vorausgeahnt, die mit ihren grauenhaften Ketzerprozessen über Jahrhunderte das Gesicht des Christentums geschändet hat. Aber wir haben gar keinen Grund, mit Fingern auf das Mittelalter zu zeigen. Verfechter kirchlicher Rechtgläubigkeit und Anwälte der political correctness, auf welche Seite wir auch gehören, wir sind auch heute noch kräftig dabei, andere Christen wegen ihrer Überzeugungen oder wegen ihres Verhaltens zu verurteilen, so als ob wir Weltrichter wären. Wir errichten zwar keine Scheiterhaufen mehr. Doch ist eine "liebe", aber beklemmende Atmosphäre so viel besser?

Wir müssen noch einen Schritt weitergehen. Wer im Bewusstsein, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben, andere aburteilt, bei dem wird sich am Ende herausstellen, dass er selber nicht zum Weizen, sondern zum Unkraut gehört, zum Gift, das blind macht. Gewiss müssen wir die Geister unterscheiden, uns ein klares und begründetes Urteil darüber bilden, was zum christlichen Glauben und Leben dazugehört und war nicht. Das Gleichnis wendet sich auch nicht gegen freundlichen Spott über andere, sofern wir bereit und fähig sind, auch über uns selbst zu lachen. Christlicher Glaube ist nicht humorlos. Das ist alles richtig. Aber der Grat ist oft sehr schmal, der zwischen einem nüchternen Urteil oder auch lustigem Spott einerseits und einer regelrechten Aburteilung andererseits hindurchführt. Das weiß jeder, der schon (wie ich auch) im Seminar oder im Institut lästerliche Flurgespräche geführt hat. Wo ein endgültiges Urteil über das Innerste eines Menschen gefällt wird, da wird es ernst. Denn das steht unter keinen Umständen uns, sondern allein Gott zu.

Das ist die eine Seite des Gleichnisses. Noch wichtiger ist das, was es positiv aussagen will. So sehr uns als Christen mit Recht daran liegt, möglichst glaubwürdig zu erscheinen, es ist ja auch sehr entlastend, wenn uns nicht zugemutet wird, letzte Urteile über andere zu fällen und eine absolut makellose Kirche zu schaffen. Natürlich ist es nicht egal, was aus der Kirche wird. Natürlich soll der Weizen wachsen und eine gute Ernte bringen. Aber das genügt dann auch. Perfektionismus ist nicht gefragt. Es genügt, dass wir unser eigenes Leben Gott ganz und gar anvertrauen. Seine Liebe wird uns wachsen lassen, auch wenn wir uns von dem, was wir für Unkraut halten, bedroht fühlen. Da wachsen dann nicht nur einzelne schöne Seelen, sondern da wächst aus vielleicht sehr merkwürdigen und fehlerhaften Menschen eine christliche Gemeinde, die etwas von der Verlässlichkeit Gottes ausstrahlt, auf die sie selber baut.

Das alles wird in diesem Gleichnis mit einer unwahrscheinlichen Ruhe ausgebreitet. Wo die Knechte, also die guten Kirchenchristen, sich schrecklich aufregen, was alles passieren kann, wenn man das Unkraut mitwachsen lässt, da ist Jesus zwar nicht einfach ungerührt, aber er ist gelassen. Und solche Gelassenheit soll auch zu unserem Glauben gehören. Der Ernst der Bedrohung ist nicht verschwunden. Das Unkraut soll am Ende verbrannt werden - Symbol für das göttliche Weltgericht. Da ist sie wieder, die unheimliche Seite Gottes. Auch wenn es in der Kirche nicht populär ist, davon zu sprechen, wir können uns nicht darum herumdrücken. Die Gelassenheit unseres Glaubens hat nur dann einen Sinn, wenn wir von diesem Hintergrund wissen. Sonst entartet sie zur Gleichgültigkeit. Und doch behält die Gelassenheit das letzte Wort. Mit ihr können wir bei aller Anstrengung, gute Arbeit zu leisten, doch in Ruhe Gott anheimstellen, was er daraus werden lässt. Gott wird nicht zulassen, dass das Unkraut den Weizen erstickt.

Man muss wohl nicht besonders betonen, dass diese Zusage in der heutigen Lage der Kirche unglaublich aktuell ist. Zumindest hier in Westeuropa sind die Untergangsängste der Kirche auf evangelischer wie auf katholischer Seite groß. Alles sieht danach aus, als werde nicht nur die Entkirchlichung, sondern die Entchristlichung in durchaus absehbarer Zeit das gleiche Maß erreichen, das sie im Osten auf Grund der jahrzehntelangen kommunistischen Propaganda schon erreicht hat. Nicht dass solche Sorgen nicht berechtigt wären. Nicht dass wir uns keine Gedanken über eine Veränderung kirchlicher Strukturen machen müssten oder nicht mit aller Intensität nach neuen Wegen zu suchen brauchten, um dem Glauben an die Erlösung durch Jesus wieder Gehör zu verschaffen. Gewiss ist defensives Sparen keine Antwort auf die Herausforderung. Da muss mehr passieren: Aufbruch, Veränderung, mitreißende Verkündigung, beispielhafter Einsatz. Trotzdem liegt das, was die Kirche zur Kirche macht, nicht in unserer Hand. Das ist die Treue Gottes, der den Weizen wachsen lässt, auch wenn das Unkraut ihn schon überwuchert zu haben scheint. Auf diese Treue können wir uns in Ruhe und Geduld verlassen. Am Ende werden wir wissen, dass dies der richtige Weg gewesen ist.

Amen.

Professor Dr. Dietz Lange
Platz der Göttinger Sieben 2
37073 Göttingen
Tel. 0551 / 75455


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